Krankenversicherung muss Hilfsmittel bewilligen
Hilfsmittel dienen nicht allein zur reinen Gehvermögenswiedergabe
Der Kläger, geboren 1969, lebt am Stadtrand einer mittelgroßen Stadt im Weserbergland und ist seit einem Verkehrsunfall im Jahr 1989 aufgrund einer Querschnittslähmung auf einen Rollstuhl angewiesen. Neben der Mobilitätseinschränkung leidet er unter einer Arthrose am Daumensattelgelenk, die insbesondere beim Bedienen des Rollstuhls zu starken Schmerzen führt.
Bereits 2017 stellte der Kläger den Antrag auf Versorgung mit einem an seinem Rollstuhl befestigten Zuggerät, das eine motorunterstützte Handkurbel besitzt und Geschwindigkeiten von bis zu 25 km/h ermöglicht – eine technische Lösung, die einerseits sportliche, gesundheitsfördernde Betätigung und andererseits die Bewältigung alltäglicher Wege erleichtern soll. Die AOK lehnte den Antrag zunächst ab und argumentierte, dass ein restkraftunterstützender Antrieb der Greifreifen ausreichend sei, um den Nahbereich zu erschließen.
Zunächst wies das Sozialgericht Hildesheim die Klage des Klägers ab. Die Begründung stützte sich unter anderem auf die Auffassung, dass der Einsatz eines motorisierten Zuggeräts über das notwendige Maß hinaus gehe, da mit den vorhandenen Hilfsmitteln der Nahbereich bereits ausreichend erschlossen werden könne.
Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hob jedoch das erstinstanzliche Urteil auf. Mit einem neuen, vom Senat beauftragten Sachverständigengutachten stellte es fest, dass das spezielle Zuggerät im Vergleich zur von der AOK angebotenen Alternative folgende Vorteile bietet:
- Vermeidung von Schmerzen: Die Bedienungsart des motorunterstützten Zuggeräts entlastet die Daumensattelgelenke des Klägers, sodass eine Verschlimmerung der Arthrose vermieden wird.
- Erweiterte Mobilität: Auch wenn das Gerät prinzipiell höhere Geschwindigkeiten ermöglicht, steht dies dem grundlegenden Versorgungsziel, dem Erschließen des Nahbereichs zur selbstbestimmten Alltagsbewältigung, nicht entgegen.
Die Revision der AOK gegen diese Entscheidung wurde letztlich als unbegründet zurückgewiesen. Der Senat betonte, dass die Versorgung mit dem beantragten Hilfsmittel nicht nur der Wiederherstellung eines weitgehend normalen Alltagslebens dient, sondern auch präventiv wirkt, indem sie einer weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigung vorbeugt.
Im Urteil wurde deutlich herausgestellt, dass der Anspruch auf Hilfsmittelversorgung im Rahmen des Behinderungsausgleichs nicht allein an klassischen, kurativen oder präventiven Behandlungserfolgen gemessen werden darf. Vielmehr steht das Grundbedürfnis der Mobilität – insbesondere im Nahbereich der Wohnung – im Vordergrund. Dieses Bedürfnis umfasst auch den Erhalt und die Nutzung der eigenen (Rest-)Körperkraft, was sowohl für die physische als auch die psychische Gesundheit von essenzieller Bedeutung ist.
Der Senat machte klar, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen grundsätzlich für die Versorgung mit solchen Mobilitätshilfen einstehen müssen, sofern eine eigenständige Erschließung des unmittelbaren Lebensumfelds – wie sie etwa für Alltagsgeschäfte notwendig ist – nicht zumutbar ist. Dabei wird auch anerkannt, dass moderne Mobilitätsbedürfnisse über die bisherige Vorstellung des fußläufig erschlossenen Nahbereichs hinausgehen.
Dieses Urteil markiert wieder einen wichtigen Schritt in der Auslegung des Anspruchs auf Hilfsmittelversorgung im Rahmen des Behinderungsausgleichs. Es unterstreicht, dass Hilfsmittel nicht allein zur reinen Gehvermögenswiedergabe dienen, sondern auch das elementare Bedürfnis nach selbstbestimmter Mobilität und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sichern sollen. Für den Kläger bedeutet dies, dass er künftig ohne Eigenanteil das speziell zugesprochene motorunterstützte Handkurbelrollstuhlzuggerät erhält – ein Erfolg, der weit über eine technische Lösung hinausgeht und einen Beitrag zur Erhaltung seiner Lebensqualität darstellt.
Expertentipp
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Sie müssen den Widerspruch innerhalb eines Monats einlegen. Die Frist beginnt an dem Tag, an dem Ihnen der Bescheid zugestellt wurde.
Fehlt bei dem Bescheid die Rechtsbehelfsbelehrung oder ist diese unvollständig beziehungsweise unrichtig, verlängert sich die Widerspruchsfrist auf ein Jahr.
Es ist Sorge dafür zu tragen, dass der Widerspruch fristgerecht bei der Behörde eingeht. Achten Sie darauf, dass Sie den Zugang bei der Behörde auch belegen können. Wenn Sie Ihren Widerspruch mit der Post schicken, sollten Sie dies per Einschreiben tun. Falls Sie Ihr Widerspruchsschreiben persönlich bei der Behörde abgeben, lassen Sie sich den Empfang quittieren. Bei einem zur Niederschrift der Behörde eingelegten Widerspruch lassen Sie sich eine Kopie der Niederschrift geben.
Ebenso sieht das Gesetz vor, dass Sie Ihren Widerspruch auch in elektronischer Form erheben können. Dies gilt aber nur, wenn die Ausgangsbehörde dafür einen Zugang eröffnet. Außerdem müssen Sie bei der Einlegung des Widerspruchs die speziellen Vorschriften über die elektronische Kommunikation mit Behörden beachten.
Eine einfache E-Mail genügt nicht der Schriftform!
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