Krankenversicherung muss querschnittsgelähmten Versicherten Handbike zahlen
Behinderungsausgleich soll selbstbestimmtem Leben dienen
Die Beteiligten streiten um die Hilfsmittelversorgung mit einem Handbike mit Elektromotor Typ „dynagil AP“.
Der 1958 geborene Kläger leidet seit einem Unfall im Jahr 1978 an einer Querschnittslähmung C 6/7 mit Tetraplegie. Ein Grad der Behinderung von 100 mit den Merkzeichen aG, H, RF, B und G sowie der Pflegegrad 5 sind festgestellt. Von der Beklagten ist er mit einem Faltrollstuhl versorgt. Zusätzlich war ihm von der Beklagten ein E-Fix-Antrieb zur Verfügung gestellt worden, der jedoch zwischenzeitlich nach Rücksprache mit der Beklagten wegen eines Defekts entsorgt wurde.
Am 27.11.2015 beantragte der Kläger unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung, eines krankengymnastischen Befundes und eines Kostenvoranschlags der C. GmbH die Versorgung mit dem Handbike mit Elektromotor „dynagil AP“ mit Tetra-Sonderzubehör zum Preis von 9.882,57 Euro. Nach Angabe des verordnenden Arztes solle das Hilfsmittel 3 bis 4 Mal pro Woche eingesetzt werden und diene zur Besserung der Beweglichkeit und zur Teilnahme am dörflichen Leben.
Mit Bescheid vom 10.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.04.2016 lehnte die Beklagte den Antrag ab mit der Begründung, Radfahren bei Erwachsenen gehöre nicht zu den Grundbedürfnissen und der Kläger könne sich den Nahbereich mit dem – damals noch vorhandenen – E-Fix-Elektroantrieb ausreichend erschließen; das beantragte elektrische Handbike sei dazu und zur Sicherung der ärztlichen Behandlung nicht notwendig. Dabei stützte sich die Beklagte auf das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Hessen (MDK) vom 02.02.2016.
Dagegen hat der Kläger am 28.04.2016 Klage zum Sozialgericht Gießen erhoben. Er hat vorgetragen, dass er mit den vorhandenen Hilfsmitteln nur bis zur Grundstückgrenze komme und auch keine Bordsteinkanten überwinden oder Gefällstrecken befahren könne. Das beantragte Handbike würde ihn in die Lage versetzen, ohne fremde Hilfe sein Haus zu verlassen, um im Nahbereich seiner Wohnung seine benötigten Lebensmittel einzukaufen.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch die Einholung des Sachverständigengutachtens von Dr. D. vom 20.12.2018. Dieser hat, ergänzend durch seine Stellungnahme vom 27.11.2019, u.a. ausgeführt, dass die Versorgung mit dem Handbike erforderlich sei, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern und einem drohenden Fortschreiten der Behinderung vorzubeugen sowie die Behinderung des Klägers auszugleichen.
Mit dem Urteil vom 13. Februar 2020 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 10.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.04.2016 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger mit einem Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb Typ „dynagil AP“ in Höhe von 9.882,57 Euro zu versorgen. Zur Begründung hat das Sozialgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass Versicherte gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) V Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln haben, die im Einzelfall erforderlich seien, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen seien.
Im Ausgangspunkt bemesse sich die Leistungszuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung im Bereich des Behinderungsausgleichs nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (z.B. Urteil vom 18.05.2011, B 3 KR 10/10 R) danach, ob eine Leistung zum unmittelbaren oder mittelbaren Behinderungsausgleich beansprucht werde. Im Fall des mittelbaren Behinderungsausgleichs habe die gesetzliche Krankenversicherung nur für den Basisausgleich einzustehen; es gehe nicht um einen Ausgleich des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung sei in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolgs, um ein selbstständigen Lebens führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können (vgl. BSG Urteil vom 25.02.2015, B 3 KR 13/13 R). Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation sei hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich sei von der gesetzlichen Krankenversicherung daher nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitige oder mildere und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betreffe.
Als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens sei in Bezug auf die Mobilität nur die Erschließung des Nahbereichs um die Wohnung des Versicherten anerkannt. Maßgebend für den von der gesetzlichen Krankenversicherung insoweit zu gewährleistenden Basisausgleich sei der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter üblicherweise noch zu Fuß erreiche. Dazu hätten die Krankenkassen den Versicherten so auszustatten, dass sie sich nach Möglichkeit in der eigenen Wohnung bewegen und die Wohnung verlassen können, um bei einem kurzen Spaziergang „an die frische Luft zu kommen“ oder um die – üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden – Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen seien. Dagegen könnten die Versicherten – von besonderen zusätzlichen qualitativen Momenten abgesehen – grundsätzlich nicht beanspruchen, den Radius der selbstständigen Fortbewegung in Kombination von Auto und Rollstuhl (erheblich) zu erweitern, auch wenn im Einzelfall die Stellen der Alltagsgeschäfte nicht im Nahbereich lägen, dafür also längere Strecken zurückzulegen seien, die die Kräfte eines Rollstuhlfahrers möglicherweise übersteigen würden (vgl. BSG Urteil vom 18.05.2011, B 3 KR 10/10 R).
Bei der Hilfsmittelversorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung komme es nicht auf die konkreten Wohnverhältnisse des einzelnen Versicherten an, sondern auf einen generellen, an durchschnittlichen Wohn- und Lebensverhältnissen orientierten Maßstab. Besonderheiten der Wohnung und des Umfeldes, die anderswo – etwa nach einem Umzug – regelmäßig so nicht vorhanden seien und einem allgemeinen Wohnstandard nicht entsprächen, seien bei der Hilfsmittelversorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung nicht zu berücksichtigen (vgl. BSG Urteil vom 07.10.2010, B 3 KR 13/09 R).
Ein Rollstuhlzuggerät sei zwar im Allgemeinen als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zur Gewährleistung der in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannten Versorgungsziele erforderlich. Ausgehend von den erwähnten Grundsätzen eröffne das Rollstuhlzuggerät den behinderten Menschen eine dem Radfahren vergleichbare und somit im Normalfall eine über den in der gesetzlichen Krankenversicherung abzudeckenden Nahbereich hinausgehende Mobilität. Mit Hilfe des Rollstuhlzuggerätes könnten nicht nur die im Nahbereich der Wohnung liegenden Ziele erreicht, sondern darüber hinaus auch Arbeits- und Freizeitwege jeglicher Art in Angriff genommen werden (vgl. LSG Thüringen Urteil vom 30.04.2013, L 6 KR 568/08).
Es lägen aber im Fall des Klägers besondere qualitative Umstände vor, die dennoch eine Leistungspflicht der Beklagten für das Rollstuhlzuggerät begründeten. Solche besonderen qualitativen Momente seien gegeben, wenn der Nahbereich ohne das begehrte Hilfsmittel nicht in zumutbarer Weise erschlossen werden könne oder wenn eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig sei. Dies sei zum Beispiel dann der Fall, wenn die Erschließung des Nahbereichs ohne das begehrte Hilfsmittel unzumutbar sei, weil Wegstrecken im Nahbereich nur unter Schmerzen oder nur unter Inanspruchnahme fremder Hilfe bewältigt werden könnten oder die vom Hilfebedürftigen benötigte Zeitspanne erheblich über derjenigen liege, die ein nicht behinderter Mensch für die Bewältigung entsprechender Strecken zu Fuß benötigen würde. Abzustellen sei dabei jeweils auf die Umstände des Einzelfalls; maßgeblich seien alleine medizinische Aspekte (vgl. BSG Urteile vom 18.05.2011, B 3 KR 7/10 R und B 3 KR 12/10 R).
Unter Anwendung dieser Grundsätze habe der Kläger einen Anspruch auf Versorgung mit dem Handbike Typ „dynagil AP“. Die Kammer folge dem überzeugenden Gutachten des Dr. D. vom 20.12.2018 sowie seiner ergänzenden Stellungnahme vom 27.11.2019. Dr. D. führe aus, dass sich beim Kläger bei der Fortbewegung mit dem Rollstuhl besondere individuelle Einschränkungen durch die nahezu aufgehobene Greifkraft der Hände ergeben würden, weshalb zum Antreiben der Greifreifen mit den Handballen ein wesentlicher Teil der Kraft eingesetzt werden müsse, um den notwendigen Druck auf die Greifreifen auszubauen, damit die Handballen nicht auf den Greifreifen rutschen würden. Daher könne zum Antrieb mit den Armen auch nur ein eingeschränkter Winkelbereich genutzt werden, weshalb der Kläger im Vergleich zu einem „greiffähigen Rollstuhlfahrer“ die eingesetzte Kraft nur zu einem deutlich geringeren Anteil in Vortrieb umsetzen könne. Da der Greifring der Räder nicht gegriffen, sondern jeweils nur mit den Handballen geschoben werden könne, sei nur ein einfaches stoßweises Vorantreiben des Rollstuhls möglich. Halten, Bremsen, Kippmanöver usw. seien dabei praktisch nicht durchführbar. Notwendige Voraussetzung für eine selbstständige Fortbewegung sei somit ein vollständig barrierefreier Untergrund. Bereits kleine Unebenheiten/Schwellen von nur 1 bis 2 cm Höhe würden bedeutende Hindernisse darstellen, die – wie auch im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung getestet – nur mit besonderer Achtsamkeit und Mühe überwunden werden könnten. Für längere Wegstrecken (außerhalb des häuslichen Umfelds) sei die Versorgung mit einem handkurbelbetriebenen Geräts unter medizinisch-therapeutischen Gesichtspunkten nicht nur sinnvoll und förderlich, sondern ideal und effektiv, um eine weiterfortschreitende Immobilisierung abzuwenden. Die Versorgung mit einem Rollstuhl ermögliche die Erschließung des Nahbereichs nur mit Unterstützung einer Begleitperson. Die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl würde zwar eine selbstständige (passive) Fortbewegung außerhalb der Wohnung zur Erschließung des Nahbereichs ermöglichen; sie wäre aber keine adäquate Alternative, da – abgesehen von dem ausbleibenden Trainingseffekt – bei jeder Nutzung des Elektrorollstuhls zum Umsetzen vom Aktivrollstuhl in den Elektrorollstuhl und anschließend wieder zurück in den Rollstuhl stets jeweils eine entsprechend geschulte und qualifizierte Hilfskraft erforderlich wäre. Die Versorgung des Klägers mit einem E-Fix-Antriebs sei nicht ausreichend, da zur Montage die Räder des Rollstuhls gewechselt werden müssten, was dem Kläger nicht selbstständig möglich sei. Das Koppelungssystem des „dynagil AP“ sei demgegenüber so konzipiert, dass eine Koppelung an den Aktiv-Rollstuhl auch bei nahezu aufgehobener Greifkraft erfolgen könne und somit dem Kläger selbstständig ohne Fremdhilfe möglich sei. Zudem sei bei der Nutzung des E-Fix-Antriebs ein barrierefreier Streckenverlauf notwendige Voraussetzung, da stärkere Unebenheiten des Untergrunds oder Hindernisse wie Schwellen/Stufen von mehr als 2 bis 3 cm nicht selbstständig überwunden werden könnten, so dass im üblichen Einsatz außerhalb des Hauses, bei dem auch Straßen zu überqueren und Bordsteinkanten zu überwinden seien, in der Regel die Unterstützung durch eine Begleitperson erforderlich sei. Die Versorgung des Klägers neben eines E-Fix-Antriebs oder Elektrorollstuhls mit einem Armbewegungstrainer greife zu kurz. Wesentlich sinnvoller und effektiver sei es, die notwendigen aktiven Bewegungsübungen für Schultergürtel und obere Extremitäten mit dem übergeordneten Ziel der selbstständigen Mobilität zu kombinieren, das Training damit in die Alltagsaktivitäten (insbesondere eigenständige Fortbewegung außerhalb des Hauses) zu integrieren und die dafür technisch möglichen Voraussetzungen in angemessener Weise zu schaffen. Damit sei das begehrte Handbike im Fall des Klägers notwendig, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern und die Behinderung des Klägers auszugleichen.
Der Versorgung des Klägers mit dem Handbike „dynagil AP“ stehe auch nicht das Wirtschaftlichkeitsgebot entgegen. Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V müssten die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürften das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Die Beklagte habe zwar vorliegend vorgetragen, dass die Versorgung des Klägers mit einem E-Fix-Antrieb und Armbewegungstrainers oder eines Elektrorollstuhls mit Armbewegungstrainers jeweils wirtschaftlicher wäre. Jedoch seien diese Versorgungssysteme nach dem Gutachten des Dr. D. für den Behinderungsausgleich des Klägers nicht ausreichend und gleichgeeignet wie das begehrte Handbike. Bezüglich der Ausstattung des begehrten Handbikes habe Dr. D. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 27.11.2019 vorgetragen, dass einige Elemente über das Maß des Notwendigen hinausgehen. Die Beklagte habe jedoch keine wirtschaftlichere Alternative vorgeschlagen, die dem Kläger – wie das Handbike „dynagil AP“ – das selbstständige An- und Abkoppeln an den Aktivrollstuhl ermögliche. Ob es tatsächlich ein wirtschaftlicheres Handbike gäbe, das über diese für den Kläger elementare Funktion verfüge, sei damit von der Beklagten nicht nachgewiesen worden.
Gegen das ihr am 04.03.2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 20.03.2020 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht erhoben.
Die Beklagte vertritt die Auffassung, dass der Elektrorollstuhl für den Kläger das Mittel der Wahl zur zumutbaren und angemessenen Erschließung des Nahbereichs der Wohnung sei; ergänzend könne sich der Kläger dafür auch für den vorhandenen Pkw entscheiden. Zudem verweist die Beklagte auf den neu in das Hilfsmittelverzeichnis aufgenommenen E Antrieb „SMOOV one“. Die Beklagte behauptet, dass der Kläger nicht nur das streitgegenständliche Handbike „dynagil AP“ sondern auch beispielsweise das Handbike „Sopur Attitude Hybrid“ des Herstellers E. selbstständig an- und abkuppeln könne.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 13. Februar 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens zur Abklärung evtl. Hilfsmittelalternativen unter Berücksichtigung der aktuellen Angebotsvielfalt,
und weiter hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger behauptet, dass er das von der Beklagten vorgeschlagene Hilfsmittel „SMOOV one“ nicht alleine an den Rollstuhl anhängen könne und damit auch keine Bordsteine von 10 cm überwinden könne. Letzteres gelte auch für den E-Fix-Antrieb, mit dem er auch bereits mehrfach gestürzt sei. Für die Benutzung des E-Rollstuhls sei er auf fremde Hilfe angewiesen. Nur morgens und abends komme ein Pflegedienst, ansonsten habe er keine Hilfskräfte im Haus.
Der Kläger hat den neuen Kostenvoranschlag vom 11.03.2020 bei der F. GmbH eingeholt, der auf 8.606,26 Euro lautet. Zu dem von der Beklagten zuletzt benannten Handbike „Sopur Attitude Hybrid“ hat der Kläger den Kostenvoranschlag vom 02.06.2021 der Firma G. GmbH aktiv über 10.592,19 Euro eingeholt und dazu ausgeführt, dass er auch dieses Handbike nutzen könne.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen sowie wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Das Sozialgericht Gießen hat mit seinem Urteil vom 13.02.2020 zu Recht den Bescheid der Beklagten vom 10.12.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.04.2016 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger mit einem Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb Typ „dynagil AP“ zu versorgen.
Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Bezug auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils; sie sind überzeugend und würdigen ausführlich die fallentscheidenden Aspekte unter Einbeziehung der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung.
Ergänzend ist anzumerken:
Der Senat ist davon überzeugt, dass das streitgegenständliche Hilfsmittel „dynagil AP“ das im Einzelfall des Klägers erforderliche Hilfsmittel ist, um einen mittelbaren Behinderungsausgleich im Sinne des § 33 Abs. 1 S. 1 3. Alt. SGB V vorzunehmen, indem es dem Kläger die Erschließung des Nahbereichs ermöglicht.
Bei der Prüfung eines Anspruchs auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich darf das zu befriedigende Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs nicht zu eng gefasst werden in Bezug auf die Art und Weise, wie sich Versicherte den Nahbereich der Wohnung zumutbar und in angemessener Weise erschließen. Dies folgt unter Beachtung der Teilhabeziele des SGB IX (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 3 SGB V), insbesondere ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen (vgl. § 1 SGB IX), aus dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) als Grundrecht und objektive Wertentscheidung in Verbindung mit dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-Behindertenrechtskonvention. Dem ist dadurch Rechnung zu tragen, dass im Rahmen des Behinderungsausgleichs zu prüfen ist, ob der Nahbereich ohne ein Hilfsmittel nicht in zumutbarer und angemessener Weise erschlossen werden kann und insbesondere durch welche Ausführung der Leistung diese Erschließung des Nahbereichs für einen behinderten Menschen durch ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich verbessert, vereinfacht oder erleichtert werden kann. Hinzu kommt ggf. die Prüfung, ob eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig ist. Dabei ist dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen (vgl. § 9 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX i.V.m. § 33 SGB I) volle Wirkung zu verschaffen. Dies bedeutet auch, dass die Leistung dem Leistungsberechtigten viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung der Lebensumstände lässt und die Selbstbestimmung fördert. Der Anspruch auf ein Hilfsmittel der GKV zum Behinderungsausgleich ist danach nicht von vornherein auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung beschränkt. Vielmehr kommt ein Anspruch auf Versorgung im notwendigen Umfang bereits in Betracht, wenn das begehrte Hilfsmittel wesentlich dazu beiträgt oder zumindest maßgebliche Erleichterung verschafft, Versicherten auch nur den Nahbereich im Umfeld der Wohnung in zumutbarer und angemessener Weise zu erschließen (vgl. BSG, Urteil vom 07.05.2020, B 3 KR 7/19 R).
Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist die Versorgung des Klägers mit dem streitgegenständlichen Hilfsmittel „dynagil AP“ notwendig. Der Senat sieht auch keinen Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 12 Abs. 1 S. 1 SGB V und auch keine Anzeichen dafür, dass das Maß des Notwendigen überschritten sein könnte, vgl. § 33 Abs. 1 S. 9 SGB V.
Der Anspruch eines Versicherten auf Ausstattung mit einem Hilfsmittel ist nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot dann ausgeschlossen, wenn der mit dem Hilfsmittel verfolgte Zweck auch auf andere Weise, z.B. mit Behindertensport oder gemeinsamer Sportausübung bzw. mit geringerem finanziellen Aufwand ebenso wirksam erreicht werden kann (BSG Urteil vom 24.01.1990, 3/8 RK 16/87; BSG Urteil vom 26.03.2003, B 3 KR 26/02 R) bzw. wenn ein anderes Hilfsmittel zur Verfügung steht, mit dem die Behinderung in annähernd gleichem Umfang ausgeglichen wird (BSG Urteil vom 21.11.1991, 3 RK 43/89). Zu prüfen ist dabei auch, ob innerhalb der Gattung des Hilfsmittels eine kostengünstigere Alternative besteht, soweit diese funktionell geeignet ist (BSG Urteil vom 16.04.1998, B 3 KR 6/97 R).
Die von der Beklagten angeführten Hilfsmittel E-Fix-Antrieb, „SMOOV one“ oder ein Elektrorollstuhl kommen nicht als geeignete Hilfsmittel in Betracht, um das Grundbedürfnis nach Mobilität durch Erschließung des Nahbereichs zu ermöglichen. Der Kläger kann diese Hilfsmittel und auch seinen Pkw – anders als den „dynagil AP“ – nicht ohne fremde Hilfe benutzen. Gerade dieser Aspekt der Selbstbestimmung ist jedoch bei der Hilfsmittelversorgung zur Erschließung des Nahbereichs zu beachten (s.o.).
Dazu stützt sich der Senat zum einen auf die glaubhafte und anschauliche Schilderung des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 05.08.2021, wonach er die genannten Rollstuhlzughilfen nicht selbst an den Rollstuhl montieren und damit auch keine Bordsteinkanten überwinden kann; für den Transfer vom und in den Elektrorollstuhl ist er behinderungsbedingt auf fremde Hilfe angewiesen. Zum anderen bezieht sich der Senat für seine Überzeugungsbildung auf das Sachverständigengutachten von Dr. D. vom 20.12.2018 nebst ergänzender Stellungnahme vom 27.11.2019. Darin bestätigt der Sachverständige nach persönlicher Untersuchung des Klägers nachvollziehbar den Vortrag des Klägers.
Dass der Kläger mit dem begehrten Hilfsmittel sich auch außerhalb des Nahbereichs bewegen kann, bedeutet nicht automatisch, dass das Maß des Notwendigen überschritten ist. Der Anspruch auf ein Hilfsmittel nach § 33 SGB V zum Behinderungsausgleich ist nicht von vornherein auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung – wie bereits oben ausgeführt – beschränkt. Vielmehr kommt ein Anspruch auf Versorgung im notwendigen Umfang auch dann in Betracht, wenn das begehrte Hilfsmittel wesentlich dazu beiträgt oder zumindest maßgebliche Erleichterung verschafft, Versicherten den Nahbereich im Umfeld der Wohnung in zumutbarer und angemessener Weise zu erschließen. Eine Notwendigkeit würde allerdings zu verneinen sein, wenn mit dem Hilfsmittel selbstständig größere Strecken als allein mittels eines Rollstuhls zurückgelegt werden sollen und damit der eigene Aktionsradius erweitert wird, sofern eine ausreichende Bewegungsfreiheit im Nahbereich besteht (vgl. BSG Urteil vom 07.05.2020, B 3 KR 7/19 R, juris Rn.31 ff.; Urteil vom 16.09.2004, B 3 KR 15/04 R).
Dies ist vorliegend nicht der Fall. Der Kläger ist gerade auf ein Handbike wie das „dynagil AP“ angewiesen, um sich ohne fremde Hilfe und damit selbstbestimmt und selbstständig den Nahbereich zu erschließen und um dabei auch notwendigerweise Bordsteinkanten überwinden zu können. Ohne das Handbike ist keine ausreichende selbstbestimmte Bewegungsfreiheit im Nahbereich gegeben. Dass der Kläger das Handbike darüber hinaus auch für weitere Fahren benutzen könnte, ist insoweit unschädlich.
Durch die vorgelegten Kostenvoranschläge, die die spezifisch für den Kläger erforderlichen behinderungsbedingten Anpassungsmaßnahmen enthalten, ist für den Senat nachgewiesen, dass das von der Beklagten zuletzt benannte Handbike „Sopur Attitude Hybrid“ keine kostengünstigere Alternative zu dem streitgegenständlichen „dynagil AP“ darstellt. Im Übrigen ist dem Wunsch- und Wahlrecht gemäß § 9 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB IX a.F. i.V.m. § 33 SGB I des behinderten Menschen volle Wirkung zu verschaffen, so dass die Auswahl des „dynagil AP“ durch den Kläger keinen Bedenken begegnet, selbst wenn das „Sopur Attitude Hyprid“ funktionell ebenso geeignet sein und – bei ggf. noch auszuhandelnder Kaufpreisrabatte – zu einem ähnlichen Preis angeboten werden würde.
Der Senat sieht sich auch in Anbetracht des Hilfsantrages der Beklagten nicht zu weiteren Sachverhaltsermittlungen veranlasst. Insbesondere bedarf es keines Sachverständigengutachtens zur Klärung weiterer Hilfsmittelalternativen. Die Beklagte hat im Berufungsverfahren mehrere Hilfsmittel als Alternative zum Handbike „dynagil AP“ benannt, die jedoch im vorliegenden Einzelfall des Klägers aus den oben im Einzelnen ausgeführten Gründen nicht in Betracht kommen. Ein Sachverständigengutachten „ins Blaue hinein“ zur Ausforschung der vielfältigsten Angebote im Hilfsmittelbereich, ohne dass die angeblichen Hilfsmittelalternativen von der Beklagten, ggf. unter Einschaltung des MDK, konkretisiert worden sind, gehört nicht zu den Aufgaben des Gerichts im Rahmen seiner Amtsermittlung. Ein entsprechender Beweisermittlungsantrag kann abgelehnt werden. Ebenso wie im Zivilprozess ist es im sozialgerichtlichen Verfahren auch unzulässig, eine Behauptung ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich aufs Geratewohl, gleichsam "ins Blaue hinein" aufzustellen (vgl. Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Auflage 2020, § 103 Rn. 8a m.w.N.). Der hilfsweise gestellte Beweisantrag der Beklagten war daher abzulehnen.
Der Kläger hat somit einen Anspruch auf das Hilfsmittel „dynagil AP“ als Sachleistung, vgl. § 2 Abs. 2 SGB V. Die Beklagte hat ihm das Hilfsmittel zu verschaffen. Es bedarf insoweit einer Korrektur des Tenors des angefochtenen Urteils des Sozialgerichts vom 13.02.2020, da dort eine konkrete Summe für die Anschaffung des Hilfsmittels ausgeurteilt worden ist. Eine solche Bezifferung ist im Falle eines Sachleistungsanspruchs – anders als z.B. bei einem Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V – nicht vorzunehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Der Senat folgt mit seinem Urteil der oben zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung. Konkrete Anhaltspunkte für eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sind weder von der Beklagten vorgetragen noch für den Senat ersichtlich.
Expertentipp
Wenn Sie mit einer Entscheidung einer Behörde oder einer Krankenkasse nicht einverstanden sind, so legen Sie zwingend Widerspruch ein. Nur so sichern Sie Ihre Rechtsposition.
Sie müssen den Widerspruch innerhalb eines Monats einlegen. Die Frist beginnt an dem Tag, an dem Ihnen der Bescheid zugestellt wurde.
Fehlt bei dem Bescheid die Rechtsbehelfsbelehrung oder ist diese unvollständig beziehungsweise unrichtig, verlängert sich die Widerspruchsfrist auf ein Jahr.
Es ist Sorge dafür zu tragen, dass der Widerspruch fristgerecht bei der Behörde eingeht. Achten Sie darauf, dass Sie den Zugang bei der Behörde auch belegen können. Wenn Sie Ihren Widerspruch mit der Post schicken, sollten Sie dies per Einschreiben tun. Falls Sie Ihr Widerspruchsschreiben persönlich bei der Behörde abgeben, lassen Sie sich den Empfang quittieren. Bei einem zur Niederschrift der Behörde eingelegten Widerspruch lassen Sie sich eine Kopie der Niederschrift geben.
Ebenso sieht das Gesetz vor, dass Sie Ihren Widerspruch auch in elektronischer Form erheben können. Dies gilt aber nur, wenn die Ausgangsbehörde dafür einen Zugang eröffnet. Außerdem müssen Sie bei der Einlegung des Widerspruchs die speziellen Vorschriften über die elektronische Kommunikation mit Behörden beachten.
Eine einfache E-Mail genügt nicht der Schriftform!
Ein Muster für einen Widerspruch finden Sie in unserem Download-Bereich.
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