Fetales Alkoholsyndrom - Die Opfer ohne Rechte

Fetales Alkoholsyndrom - Die Opfer ohne Rechte

Fetales Alkoholsyndrom und das Opferentschädigungsgesetz


Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG besteht somit aus den Merkmalen vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff (schädigender Vorgang), Schädigung und Schädigungsfolgen, die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.2016 -B 9V3/15 R-, juris, Rn. 25). Nach § 1 Abs. 2 OEG steht dabei einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatz 1 insbesondere die vorsätzliche Beibringung von Gift (Nr. 1) gleich; dadurch wird der eng gehaltene Kreis entschädigungsberechtigter Opfer erweitert (BSG, Urteil vom 14.02.2001 - B 9 VG 4/00 R -, juris, Rn. 17). Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette des Vollbeweises. Dafür muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 128 Rn. 3b m.w.N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24.11.2010 - B 1 AL 35/09 R ,-juris, Rn. 21). Eine Tatsache istbewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a.a.O.).

Zwar setzt der Wortlaut des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ("Wer ... infolge eines . . . Angriffs gegen seine oder eine andere Person") voraus, dass der Geschädigte im Zeitpunkt des Angriffs bereits gelebt hat (vgl. § 1 Bürgerliches Gesetzbuch <BGB>). Die Schädigung der Leibesfrucht vor der Geburt lässt sich nicht mehr unter den Wortlaut dieser Norm fassen. Nach der Rechtsprechung des BSG weist das Gesetz an dieser Stelle jedoch eine planwidrige Regelungslücke auf, die im Wege der Rechtsfortbildung durch die analoge Anwendung des § 1 OEG zu schließen ist. Gesundheitsstörungen, die auf eine Schädigung vor der Geburt zurückzuführen sind, können danach vom Anwendungsbereich des § 1 OEG erfasst werden. Das OEG soll Opfer von Gewalttaten entschädigen, die der Staat nicht verhindern konnte.

Dieser Schutzzweck schließt Personen ein, die zum Zeitpunkt der Gewalttat noch nicht geboren sind, aber nach ihrer Geburt unter den gesundheitlichen Folgen der Gewalttat zu leiden haben. Beim Nasciturus handelt es sich um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben; ihm stehen eigene Rechte zu, auch gegenüber seiner Mutter (vgl. BSG, Urteil vom 24.09.2020 -B 9 V 3/18 R -,juris, Rn. 16, 17 m.w.N.).

Dies spricht dafür, dass generell ein Anspruch der Betroffenen auf eine Entschädigungleistung nach dem Operentschädigungsgesetz besteht. Jedoch verlangt das Bundessozialgericht einen besonderen Vorsatz der Mutter bei dem Alkoholmissbrauch. Nicht nur den Vorsatz zu einem rechtswidrigen tätlichen Angriff, durch den es zu einer gesundheitlichen Schädigung gekommen ist. Das Bundessozialgericht stellt in seiner Entscheidung klar, dass die Mutter einen erforderlichen Tötungsvorsatz gehabt haben muss.

"Zwar handelt es sich bei dem Alkoholmissbrauch der leiblichen Mutter der Klägerin um die für einen tätlichen Angriff erforderliche, unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung mi Sinne dieser Vorschrift. Die dafür zusätzlich erforderlichefeindselige Willensrichtung des Angriffs liegt indes nur dann vor, wenn der Alkoholkonsum der Schwangeren die Grenze zum kriminellen Unrecht überschreitet, weil er auf einen versuchten Abbruch der Schwangerschaft nach § 218 Abs. 4 Satz 1, § 22 StGB gerichtet ist."

In der Praxis stehen die Betroffenen daher vor der Problematik, dass entsprechende Beweise dafür vorliegen müssen, dass die leibliche Mutter mit dem erforderlichen Tötungsvorsatz gehandelt hat. Schriftlich dokumentiert wird eine solche Absicht kaum sein. Wenn es nicht gerade Zeugen gibt, die eine solche Tötungsabsicht der Mutter belegen können, verbleibt als möglicher Beweis nur eine Zeugenaussage von der Mutter selbst. Diese wird dann von einer Kammer (bestehend aus einem Richter*in und zwei Schöffen*innen) oder gar einem Senat (bestehend aus drei Berufsrichtern*innen und zwei Schöffen*innen) befragt, ob sie die Absicht hatte, durch den Alkoholkumsum das eigene KInd zu töten. Wie wird die Antwort der Mutter auf eine solche Frage wohl lauten?

"Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben konnte der Senat einen wenigstens bedingten Tötungsvorsatz der Zeugin [...] nicht feststellen. Zwar hat diese nach ihrer Aussage im Termin zur mündlichen Verhandlung am 21.12.2021 vor dem SG Dortmund eingeräumt, dass sie während der Schwangerschaft Alkohol konsumiert habe und ihr auch bewusst gewesen sei, dass sie ihr Kind durch den Alkoholkonsum schädige. Diese allgemeine Kenntnis von einer möglichen schädigenden Wirkung von Alkohol unterscheidet sich aber maßgeblich von der konkreten Vorstellung, das Ungeborene durch Alkoholkonsumzu töten (so auch BSG, a.a.O., Rn. 40). Die Zeugin hat jedoch auf weitere Befragung ausdrücklich angegeben, sie könne ganz sicher sagen, dass ihr Alkoholkonsum nicht darauf gerichtet war, die Schwangerschaft zu beenden und ihr Kind zu töten. Der Senat hat keine Veranlassung, an der Glaubhaftigkeit dieser Aussage zu zweifeln. [...]

Soweit die Klägerin die Glaubwürdigkeit der Zeugin „massiv bezweifelt" und die Einholung eines „Glaubwürdigkeitsgutachtens" für erforderlich gehalten hat, weist der Senat darauf hin, dass Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung - wie sich bereits aus dem Begriff ergibt- nicht die Frage nach einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Untersuchen im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft ist. Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d.h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.1999 - 1 StR 618/98 -, juris, Rn. 11). Eine solche Beurteilung zählt an sich zu den ureigenen Aufgaben eines Tatrichters; sie gehört seit jeher zum Wesen richterlicher Rechtsfindung. Daher kommt die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nur ausnahmsweise in Betracht. Der Richter selbst hat bei der Beweiswürdigung Erfahrungsregeln zu beachten, die u.a. aus aussagepsychologischen Untersuchungen gewonnen wurden. Allerdings kann die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen insbesondere dann geboten sein, wenn die betreffenden Angaben das einzige das fragliche Geschehen belegende Beweismittel sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie durch eine psychische Erkrankung der Auskunftsperson (Zeuge, Beteiligter) und deren Behandlung beeinflusst sein können (vgl. dazu BSG, Urteil vom 15.12.2016 - B9 V 3/15 R -,juris, Rn. 41 m.w.N.). Dabei richtet sich die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens nach den Umständen des Einzelfalls und steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts (BSG, Beschluss vom 24.05.2012 - B 9 V4/12 B -, juris, Rn. 21, 22), es besteht also kein verfahrensrechtlicher Zwang zur Einholung. Vorliegend hielt der Senat eine derartige Begutachtung der Zeugin nicht für geboten.

Die vom Senat beabsichtigte erneute Befragung der Zeugin konnte nicht erfolgen, da diese im Termin zur mündlichen Verhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat. Ein solches ergab sich für sie als leibliche Mutter der Klägerin nach § 383 Abs. 1 Nr. 3 Zivilprozessordnung (ZPO) auch nach deren Adoption (vgl. Greger in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 383 Rn. 10) und im Hinblick auf das Beweisthema zudem nach § 384 Nr. 1 1. Alt. ZPO. Der Senat konnte sich damit nicht, wie es für die Beurteilung des Wahrheitsgehalts den Angaben der Zeugin geboten gewesen wäre, ein persönliches Bild von der Kläger in und ihren Vorstellungen bei dem Konsum von Alkohol während der Schwangerschaft verschaffen. Die fehlende Aufklärbarkeit insoweit geht zu Lasten der Klägerin, die die Feststellungslast für die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG zutragen hat.".

Dort liegt das Problem der Betroffenen. Das BSG hat mit seiner Entscheidung eine rechtliche Situation geschaffen, die für die Betroffenen unüberwindbar ist. Denn es wird in der Praxis wohl kaum eine Mutter geben, die vor einem Gericht einräumen wird, dass sie mit einem Tötungsvorsatz gegenüber ihrem ungeborenen Kind gehandelt hat.

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